Zeitungsbericht

Der 89-jährige Ernst Nicol erfand vor 55 Jahren die nach ihm benannten Rettungsboote – noch heute sind sie rund um den Globus zu finden

Ostenfeld. Man sieht es ihm nicht an, aber der Mann ist ein Held. An seinem Wohnort weiß dies kaum jemand. Wer Ernst Nicol trifft, ahnt dies auch nicht. Aber fest steht: Der Ostenfelder hat das Leben vieler Menschen gerettet. Hunderter, vielleicht auch Tausender. Er selbst hat weder gezählt, noch recherchiert. Fest steht jedoch, dass Ernst Nicol eine revolutionäre Erfindung gemacht hat: Vor 55 Jahren erfand er ein unsinkbares Rettungsboot – ein Eintrag in die Geschichtsbücher ist ihm aber verwährt geblieben.

Ernst Nicol mit seinem Modell

Ernst Nicol mit seinem Modell

Ein Blick zurück: Als Kind besichtigt der 1923 in Flensburg geborene Ernst Nicol mit seinen Eltern das Linienschiff „Hessen“. Das riesige Kriegsschiff, hatte in Mürwik festgemacht und den damals Achtjährigen beeindruckt. So sehr, dass er sich entschloss, Schiffsbauer zu werden. Schon in der Volksschule beeindruckte Ernst Nicol Mitschüler und Lehrer gleichermaßen mit seinem Talent: Er konnte nicht nur sehr gut zeichnen, sondern war auch ungemein fingerfertig. Da Nicol kein Geld für Modellbausätze hatte, fertigte er sein Spielzeug aus Knetmasse und Pappmachee.

Mehr als 300 Schiffe bastelte der Flensburger auf diese Art und Weise in seinem Kinderzimmer. Heimlich, denn sein Vater durfte davon nichts wissen.Nach der Schule folgte ein Lehre zum Schiffsbauer, einige Jahre nach dem Krieg eine Anstellung als Konstrukteur und Einkäufer auf der Husumer Schiffswerft. Zu jener Zeit beschäftigen Nicol bereits die Nachrichten über Schiffskatastrophen auf den Meeren – und die oft nur unzureichenden Rettungsausstattungen an Bord. Einen dicken Leitz-Ordner hat innerhalb kürzester Zeit in den 50-er Jahren zusammengetragen. Sie belegen noch heute: „Die Boote waren kümmerlich, ungepflegt, einfach schrecklich“, sagt Nicol. „Wenn sie man sie brauchte, waren sie nicht zu gebrauchen.“ Auch die aufblasbaren Rettungsinseln waren nach Ansicht des Schiffbauers nur bedingt einsatzfähig – zu instabil und wenig sturmtauglich.Nicol machte sich Gedanken und entwarf nach Feierabend am Reißbrett und später als Modell sein „Insassen-Schutz-Rettungsboot“ – ein unsinkbares Rettungsboot mit geschlossener Überdachung. „Im Prinzip funktioniert es wie ein Konservendose. Die geht ja auch nicht unter“, beschreibt der Tüftler seine Erfindung, die er 1958 in zehn Ländern zum Patent anmeldete.Erst zwei Jahre später fand Nicol in Bardenfleth an der Weser einen eine Werft, die sich seiner Erfindung annahm. Den Durchbruch schaffte das Boot jedoch erst 1960 auf der internationalen Seeschifffahrtskonferenz in London. Dort wurde beschlossen, dass nur noch Schiffe mit „Nicol-Booten“ von Stapel laufen durften – die Siegeszug der Rettungsboote des Ostenfelders begann.Nicht nur in Deutschland, auch in Russland und Frankreich liefen anschließend die Rettungsboote von Stapel. Reich wurde Ernst Nicol dadurch aber nicht. „Ich habe nie darauf geachtet, wer, wann, wo und wie viele Boote gebaut wurden“, sagt Ernst Nicol. „Dafür fehlte mir einfach die Zeit. Außerdem hatten wir damals auf der Husumer Schiffswerft sehr viel zu tun.“ Erschwerend kam hinzu, dass ein paar Jahre später die Patentrechte abliefen. Das Resultat: Weltweit konnten Werften Nicol-Boote konstruieren und zu Wasser lassen. Und so ging der Erfinder-Stern von Ernst Nicol unter, bevor er überhaupt richtig zu leuchten begann. „Eine Anerkennung habe ich in all den Jahren nicht bekommen“, sagt der heute fast 90-Jährige. „Wer weiß denn schon, dass ich diese Boote entwickelt und erfunden habe?“Doch das Wissen, der „Vater“ dieser besonderen Rettungsfahrzeuge zu sein, erfüllt Ernst Nicol aber auch mit einem gewissen Stolz. Immer wieder sieht er seine „Babys“, die auf den Weltmeeren zu Hause sind – ob an Bord des größten Passagierschiffs der Welt, der „Allure of the Seas“ für 6300 Passagiere, des weltgrößten Segelschiffs, der „Royal Clipper“ oder des russischen Atomeisbrechers „50 Let Pobedy“.Beim Betrachten der zahlreichen Fotos, erzählt Ernst Nicol von seinen Erlebnissen beim Hafengeburtstag im vergangenen Jahr. In seiner Stimme schwingt dabei ein wenig Wehmut mit. Ein riesiger Luxusliner läuft in den Hamburger Hafen ein – die Queen Mary 2. Der Nordfriese kann seine Rettungsboote schon von weitem erkennen. Inmitten tausender Zuschauer am Hafenbecken steht Ernst Nicol, der große Erfinder – und niemand ahnt es. „Das tut schon weh“, gibt der Nordfriese unumwunden zu.Neben den Bildern sortierte Ernst Nicol über die Jahre hinweg auch Zeichnungen, Prospekte und zahlreiche Artikel aus diversen Tageszeitungen in Sammelmappen ein. Auch den Ausschnitt einer Zeitungsseite hat der 89-Jährige feinsäuberlich ausgeschnitten und eingeklebt – auf die letzte Seite seiner Aufzeichnungen. Unauffällig und unscheinbar: ein Kreuzworträtsel aus der „Welt am Sonntag“. Nach dem „Erfinder eines Rettungsboots“ wird dort gefragt. Fünf Buch staben: „N-I-C-O-L“.

Quelle: Zeitungsbericht vom 02.03.2013 in der SHZ von Torsten Beetz